Was sind geeignete Ideen zur Umrahmung?
Eine Anfrage zur musikalischen Gestaltung einer Gedenkveranstaltung ist für mich Anlass geschichtliche Ereignisse und Schicksale näher zu betrachten. Was Generationen vor mir im Unterricht lernten, was mir vermittelt wurde abzugleichen, neu zu bewerten, Forschungsergebnisse zu lesen, sich mit Auslegungen eines Ereignisses im Laufe der Zeit auseinander zu setzen.
Als Musikerin fragte ich mich natürlich welche Melodien für einen Gedenktag wie dem 17. Juni geeignet sind. Ohne ideologisierte Melodien zu nutzen! Bei meinen Recherchen zu tatsächlichen Ursprüngen von Liedern und Melodien wuchs der Wunsch eine eigene Musik zu kreieren. Deshalb bin ich sehr dankbar für die Zusammenarbeit mit einem Leipziger Musiker und Komponisten: Hendrik Reichardt.
Durch Hendrik Reichardts Expertise entstand ein Werk für Klarinette solo, welches meinen Prozess der Auseinandersetzung mit dem Gedenktag 17.Juni 1953 widerspiegelt. …
Hendrik Reichardt:
Stücke entstehen bei mir häufig für einen speziellen Anlass. Das ist wohl allgemein nichts Ungewöhnliches. Der Anlass „17. Juni“, also etwas zum Arbeiter- und Volksaufstand in der DDR von 1953 zu schreiben, ist hingegen schon besonders, stellt mich doch dieses historische Ereignis vor besondere Herausforderungen.
Das Ereignis ist in meiner Familie bis heute sehr präsent. Meine Großmutter hat am 17. Juni Geburtstag und wurde in jenem Jahr 22 Jahre alt. Sie, die aus Pommern stammt und infolge des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat ausgewiesen worden war, durfte sich in der DDR nur euphemistisch „Umsiedlerin“ nennen. Ich frage die heute 93-Jährige jetzt für die Komposition nach dem 17. Juni 1953. Da war sie mit meinem Großvater verlobt, erzählt sie. Dieser hatte im Krieg seinen Vater verloren und war dann nach 1945 als Jugendlicher ein glühender Sozialist, der unter anderem am ersten Jugendobjekt der FDJ, dem Talsperrenbau zu Sosa im Erzgebirge, als Freiwilliger mitgearbeitet hat. Die Bekanntschaft mit meiner Großmutter und ihrer Geschichte ließ ihn erstmals an offiziellen Darstellungen der jungen DDR zweifeln. Als dann dieser Aufstand niedergeschlagen wurde, brach für ihn eine Welt zusammen, und sein politisches Engagement für die DDR erlosch. So fand ich das Große im Kleinen. Eine einzelne klagende Klarinette ist dafür gerade richtig.
Die politische Haltung meines Großvaters fand ich in Büchern wie Erik Neutschs Spur der Steine und eben Fünf Tage im Juni von Stefan Heym widergespiegelt. Als meine Studienfreundin Antje Taubert an mich mit dem Wunsch um ein Stück für sie zum Anlass des Gedenkens an den 17. Juni 1953 herantrat, kam mir daher sofort Heyms Roman in den Sinn, der in der DDR vor 1989 nicht erscheinen durfte, aber 1973 in der Bundesrepublik erschien. Mir ist bewusst, dass dieses Buch bis heute umstritten ist, Heym anfänglich eine ambivalente Haltung zum „17. Juni“ hatte. Ich möchte diesen Diskurs weder wiederholen noch weiterführen. Entscheidend sind für mich Heyms in diesem Roman gewonnene Einsichten und der Blick auf diese Ereignisse, wie sie sich mir aus seiner Perspektive heraus erschließen, als Ausgangspunkt für eine künstlerische Auseinandersetzung.
Das Stück Five Days In June ist von der Architektur her dreiteilig gegliedert wie Heyms Roman auch. Trotzdem ist es keine Übertragung des Buches in Musik, sondern ein künstlerischer Kommentar zur heutigen Sicht auf die Ereignisse und die Bedeutung des Aufstands vom 17. Juni 1953 im Kontext mit diesem von einem Zeitzeugen verfassten Roman. Ich nehme also nicht Heyms Perspektive ein, sondern gleiche meine Eindrücke nach der Lektüre mit den eigenen Kenntnissen dieses Ereignisses ab, woraus mein eigenes Stück entstanden ist. Der erste und der dritte Satz sind kontemplativ gehalten, sind als Vor- und Nachspiel begreifbar (wie auch im Roman genannt). Der 2. Satz (bei Heym „Ereignisse“) ist eine Marschparaphrase, die die Machthaber in der DDR als „rote Preußen“ karikiert. Besonders hier, aber auch in den Außensätzen gibt es kurze Fetzen von Zitaten der Internationale, der Eisler’schen DDR-Hymne, aber auch der Haydn’schen heutigen Deutschlandhymne. Sie werden angerissen, sequenziert, aber nicht auf klassische Weise musikalisch verarbeitet. Eher ringen sie miteinander, so wie heute noch verschiedene Sichtweisen auf den 17. Juni. Der letzte Satz bringt als Zitat am Ende noch den Beginn der Kinderhymne von Eisler und Brecht. Mögen Brecht und Eisler vordergründig wie Heym auch als Vertreter der Mächtigen in der DDR gelten, so offenbart ein Blick in ihre Biografien gerade im Kontext des Arbeiter- und Volksaufstands differenziertere Bilder. Brechts Bonmot nach dem 17. Juni, wonach die Regierung der DDR das Volk auflösen und sich ein neues wählen möge, wenn sie kein Vertrauen mehr ins Volk habe, spielte bei der Auswahl dieses Zitats eine ebenso große Rolle wie dessen Text selbst: „Anmut sparet nicht, noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand / dass ein gutes Deutschland blühe / wie ein andres gutes Land.“ Dem habe ich auch heute nichts hinzuzufügen. /// Leipzig, im Juni 2024, Hendrik Reichardt
Ich danke dem Thüringer Landtag für den Auftrag und das Erleben dieser Veranstaltung.